Beitrag zur Eforschung des absoluten Gehörs im vorschulpflichtigen Kindesalter.

Originally published in Archiv für die Gesamte Psychologie, 68, 273-94, 1929.

M. Gebhardt

Aufgabe

Die folgende Untersuchung soll einen Beitrag zur wissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung bringen. Sie wurde angeregt durch mehrere Arbeiten aus dem Würzburger Psychologischen Institut [1] und gliedert sich diesem wichtigen Arbeitsgebiet des Psychologischen Instituts der Universität Würzburg an.

Es soll im folgenden eine psychologische Darstellung und Prüfung des absoluten Gehörs eines beim Abschluß dieser Arbeit fünfeinhalbjährigen Knaben gegeben werden. Mit der Prüfung musikalischer Fähigkeiten begeben wir uns ebenfalls auf ein Arbeitsgebiet des Psychologischen Instituts Würzburg [2].

Das absolute Tongedächtnis, das schon unter Berufsmusikern keine allzu häufige Erscheinung ist, gehört im allgemeinen zu den seltenen Begabungen. In vielen Fällen wurde es erst später durch eindringliche Musikpflege und Studium erworben. Von dieser Gruppe scheiden sich die Bevorzugten ab, bei denen es angeboren, also ursprünglich ist. Und auch bei diesen Bevorzugten tritt die Fähigkeit, absolute Tonhöhen zu erkennen, in der Regel erst mit beginnendem Musikunterricht hervor oder wurde wenigstens erst in diesem Alter entdeckt und beachtet. Im vorliegenden Falle machte diese Spezialbegabung schon mit dem Ende des dritten Lebensjahres auf sich aufmerksam-- gewiß ein ungewöhnlicher Fall-- und regte durch die große Sicherheit, mit der sie hervortrat, zu aufmerksamer Beobachtung und genauer Untersuchung ihrer Weiterentwicklung während der folgenden zweieinhalb Jahre an. Für diese Arbeit lag eine sehr große Anzahl von Beobachtungen und Aufzeichnungen von seiten der nächsten Angehörigen des Knaben vor, so daß diese Arbeit ein geschlossenes Bild bieten kann. Es ist wohl nicht notwendig, besonders hervorzuheben, daß alle Aufzeichnungen innerhalb der Familie ohne jede Tendenz gemacht worden sind und der Gedanke, daß sie einmal die Grundlage für eine wissenschaftliche Untersuchung bilden könnten, außer jeder Berechnung lag. Im ganzen werde ich von den im einzelnen für die Kinderpsychologie sehr interessanten Mitteilungen nur so viel Gebrauch machen, als zur psychologischen Beschreibung und wissenschaftlichen Darstellung der kleinen Persönlichkeit unumgänglich notwendig ist. Ich beschränke mich also auf die Tatsachen, die mit der Fähigkeit der absoluten Tonerkenntnis im Zusammenhang stehen und streife selbst die Frage nach der musikalischen Begabung nur dann, wenn das Thema meiner Untersuchung es erfordert. Es liegt mir ganz fern, aus dem kleinen A. R. (wie ich ihn nach seinen Vornamen nennen will) ein Wunderkind machen zu wollen und einen Vergleich mit dem kleinen Spanier Pepito Arriola anzustreben [3]. Eine Untersuchung nach dieser Richtung liegt außerhalb meiner Absicht, ganz abgesehen davon, daß unser kleiner A. R. ganz und gar nicht den Eindruck eines Wunderkindes macht.

Um eine psychologische Untersuchung seines absoluten Tongefühls zu geben, was allein Grund und Zweck dieser Arbeit ist, empfiehlt es sich zunächst, mit einer allgemeinen Beschreibung seines absoluten Gehörvermögens zu beginnen, sodann das gewonnene Bild durch eine Darstellung seiner übrigen geistigseelischen Beschaffenheit zu einem Gesamtbild zu ergänzen und endlich durch eine besondere Prüfung Art und Umfang seiner absoluten Tonhöhenerkenntnis zu erweisen.

I. Entwicklung des absoluten Gehörs des kleinen A. R. in den ersten Kinderjahren

Zu Beginn dieser Untersuchung ist es notwendig, den Zeitpunkt zu erforschen, wann die Apperzeption und Differenzierung von Klängen zum erstenmal mit Bestimmtheit erfolgt ist. Nach den genauen Aufzeichnungen der sehr musikalischen Mutter unterschied der Junge mit eindreiviertel Jahren Geige und Klavier. Er nahm den Klangunterschied der beiden Instrumente nicht bloß wahr, sondern richtete bei Spaziergängen seine Aufmerksamkeit darauf und nannte jedesmal das Instrument, wenn Musik aus den Häusern auf die Straße drang. Geige und Klavier kannte er vom Zusammenspiel beider Instrumente, das in jener Zeit im Elternhause einige Male erfolgt war. Ein Vierteljahr später, mit zwei Jahren, unterschied er eine Vielheit von Klängen beim Glockenläuten. So oft er es hörte, bemerkte er, ob es "eine oder viele Bimbam" seien. Diese beiden Beobachtungen besagen an sich nichts und wären ohne jede Bedeutung, wenn sie nicht als Vorstufen zu einem sehr wichtigen Ereignis betrachtet werden müßten, das ein Jahr später eintrat, kurz nach Vollendung des dritten Lebensjahres. Damals erkannte er einen neuen Straßenbahnwagen, der zum erstenmal am elterlichen Hause vorbeifuhr und von ihm nicht gesehen werden konnte, lediglich an dem Klang der Signalglocke. Jedesmal, wenn der neue Wagen kam, machte er darauf aufmerksam und ließ sich durch nichts in seinem Urteil beirren. Allen Einwänden begegnete er mit der unerschütterlichen Antwort: "Das höre ich doch!" So sicher erfaßte er schon mit drei Jahren einen Tonunterschied, der etwa einen Halbton betrug. Schon diese auffällige Sicherheit in der Klangbeurteilung deutete auf ein scharfes Gehör hin und gab der Vermutung Raum, daß der Junge Tonhöhen absolut erkennen könne. Bestärkt wurde diese Annahme zwei Monate später nach dem Wegzug der Eltern in eine andere Stadt. Die Neuheit aller Dinge mochte seine Aufmerksamkeit im allgemeinen auf immer neue Erlebnisse eingestellt und die geräuschvolle Umgebung der neuen Wohnung in verkehrsreicher Lage die psychische Disposition zur Apperzeption bisher ungewohnter Ausweichsignale erhöht haben. So hielt er an einem der ersten Tage, als ein Radfahrer läutend am Hause vorbeifuhr, plötzlich im Spiel inne und rief: "Wie mein Elefäntchen." Die Fahrradglocke» erinnerte ihn an die Glocke eines Spielzeugs, das er ein Jahr früher zum Geschenk bekommen hatte. Bemerkenswert ist, daß der Vergleich der Klänge nicht bei gleichzeitiger Darbietung erfolgte, sondern die Tongleichheit spontan aus der Erinnerung an sein Spielzeug erkannt worden ist. Also Tonerkenntnis auf Grund des Tongedächtnisses.

Diese Tatsache veranlaßte die Mutter zu einem Versuch. Sie schlug auf dem Flügel den Ton c an und fragte: "Hörst du das?" - Ja.-- "Das ist c."-- Ja.-- "Erkennst du das wieder?"-- Ja. - Am nächsten Tage kannte er es aus einer Reihe verschiedener Töne wieder heraus und hat es seitdem nie mehr verwechselt. Er lernte dann a und f hinzu, alle Töne mühelos, gewöhnlich genügte eine einmalige Benennung. Nur bei d und e ging es nicht ganz so leicht. Auch verwechselte er am Anfang cis und fis; doch scheint sich diese Verwechslung nur auf die Benennung der Töne, nicht auf die Töne selbst bezogen zu haben, da die Benennungen cis und fis einander sehr ähnlich klingen. Auch erkannte er alle anderen Halbtöne es, as, b stets sofort ohne Schwierigkeit und ohne Zögern. Mit dreieinhalb Jahren beherrschte er alle Töne der eingestrichenen Oktave und wußte sie auch noch nach mehrwöchiger Abwesenheit, obwohl in dieser Zeit kein Hörversuch gemacht werden konnte, da das zur Verfügung stehende Klavier so herabgestimmt war, daß er in dieser Tonlage nichts erkennen konnte.

Um keine falsche Meinung aufkommen zu lassen, sei besonders darauf hingewiesen, daß nichts übereilt, nichts erzwungen angelernt und andressiert worden ist, weder in dieser Zeit noch in den beiden folgenden Jahren; die Eltern machten es lediglich einer angeborenen Fähigkeit möglich, sich schon im jugendlichen Alter zu entwickeln. Niemals übten sie einen Zwang aus. Die Hörversuche glichen einem Spiel, einem Rätselraten, zu dem das Kind meist selbst aufforderte, und wurden so zu einer Quelle der Freude und heiteren Spieles. Sie sollten das junge Gemüt nicht belasten und ihm die Musik nicht für immer verekeln. Vielmehr sollte es sich, seiner Veranlagung entsprechend, zu ihr hinfinden. Gefördert wurde nur die Freude am Musikalischen durch Beispiel und Gespräch. Darum fanden auch die Hörversuche nicht regelmäßig statt, sondern nur, wenn sich Gelegenheit dazu bot. Trotzdem lernte er spielend innerhalb eines halben Jahres sämtliche Ganzund Halbtöne in der Mittellage und erkannte in jener Zeit auch schon das Violin a, ferner a, g und d auf dem Cello. Gleichzeitig begann er mehr auf die Musik zu achten und hörte bestimmte Töne aus einzelnen Tonstücken heraus, so das c aus der zwölften und dreizehnten Variation von den "32 Variationen" für Pianoforte von Beethoven oder den Orgelpunkt auf f am Schlusse des b-moll-Intermezzo von Brahms op. 117. Ein verminderter Septimenlauf in der Chaconne von Bach-Busoni (Ausgabe bei Breitkopf und Härtel, Seite 6) entlockte ihm ein schallendes Gelächter und immer wieder wollte er diesen prasselnden Sturz der Töne hören. In dieser Zeit, mit dreieinhalb Jahren, erkannte» er auch charakteristische Klaviermusik nach längerer Pause ganz unfehlbar wieder, so das berühmte C-dur-Präludium von Bach im "Wohltemperierten Klavier" oder die genannten c-moll-Variationen von Beethoven u. a. Wenn er abends vor dem Einschlafen noch Musik hörte, so verlangte er zu wissen, was es sei, dann erst schlief er ein. Meist erkannte er es am nächsten Tage wieder. Wurde Streichquartett im Hause gespielt, so wich er nicht von der Stelle; gewöhnlich legte er sich unter einen Stuhl, hörte zu, beobachtete-- und schlief auch gelegentlich ein.

Gegen Ende des vierten Lebensjahres fing er an zu singen. Er sang den ganzen Tag, hohe und tiefe Töne, vielfach Oktaven. Es waren meist selbstgebildete Melodien, doch blieb er fast immer in der Tonart. Selbständiges Singen fiel ihm nicht leicht. Oft mißlang es ihm, ein mit der Mutter richtig gesungenes Liedchen ganz allein ohne Hilfe und Klavierbegleitung richtig wiederzugeben. Er stolperte oft (dabei nicht immer an der gleichen Stelle), merkte es jedoch sofort ("falsch") und ärgerte sich darüber. Offenbar beruhte dieses fehlerhafte Singen nicht auf Mängeln des Gehörs und des musikalischen Bewußtseins, sondern auf Innervationsschwierigkeiten. Es fehlte ihm noch die Beherrschung der Phonations-organe. Die Diskrepanz zwischen dem inneren Ohr und dem Singen verschwand auch bald, da sich die motorischen Hemmungen im Laufe weniger Monate, besonders nach heftigem Keuchhusten behoben. Einen Beweis dafür, daß der anfängliche fehlerhafte Gesang auf der Ungeschicklichkeit der noch ungeübten Kehlkopfmuskeln beruhte, zeigt die Tatsache, daß der Junge schon mit vier Jahren zwei Monaten c und a nach dem absoluten Tonbewußtsein ansingen konnte, wie er auch alle Liedchen genau in der eingeübten Tonart anstimmte. Heute (mit fünfeinhalb Jahren) bereitet ihm selbständiges Singen von Liedchen keine Schwierigkeiten mehr, und mißlingt es ihm, so ist es meist eine Folge ungenauer Kenntnis des Textes, den er meist nebensächlich behandelt. Die Melodie ist ihm stets die Hauptsache. Transposition von Tönen und Geräuschen jeder Tonhöhenlage oder Klangfarbe in seine Stimmlage bereitete ihm schon mit vier Jahren nicht die mindeste Schwierigkeit mehr. Auch singt er jeden gewünschten Ton mit bewußter Sicherheit richtig an. Wenn er einmal fehlt, so korrigiert sofort das Ohr ("das war nicht e, sondern f"). Im Laufe von eineinhalb Jahren hat er eine Reihe einfacher Kinderlieder kennen gelernt. Beim Spiel singt er sie viel, meist aber nur die Melodien, der richtige Text ist ihm, wie gesagt, Nebensache. Oft sind ihm diese Melodien nur Ausgangspunkte für eigene selbsterfundene Melodien. Als ihm einmal vorgehalten wurde, daß er falsch singe, entgegnete er bestimmt: "Das ist nicht falsch, ich singe nur eine andere Melodie," und ein andermal, als er das bekannte Maikäferlied "in eigener Bearbeitung" sang, machte er die Bemerkung: "Ich habe Ersatzteile hineingesungen"-- es waren eine Art Variationen. Bei seinem Gesang überwiegt vielfach das produktive Element. Die einfache Reproduktion von Melodien liegt ihm nicht. Er verändert sie bewußt und findet einen Reiz in ihrer Umgestaltung. Seinem inneren Ohr muß also ein hohes Maß von Aktivität eigen sein.

Wenden wir uns nach diesem Abschnitt wieder nach einem früheren Zeitpunkt zurück. Wir sprachen davon, daß der kleine A. R. mit vier Jahren bereits alle Töne der Mittellage absolut hörte und Tonstücke nach dem Gehör wieder erkannte. Die Entwicklung geht nun nach drei verschiedenen Richtungen weiter. Sie kann im ganzen nur in ihren Ergebnissen skizziert werden, da nach den Anfängen dieser Entwicklung (mit vier Jahren zwei Monaten) infolge sehr heftigen Keuchhustens und der Geburt eines Schwesterchens eine lange vollkommene Unterbrechung eintrat, in der jede äußere Förderung fehlte. Doch sollte es sich zeigen, daß dieser Stillstand keinen Rückschritt brachte, sondern eine Zeit inneren Reifens wurde. In den Wochen nach dieser Unterbrechung setzte ein großer Fortschritt ein. Zunächst hatte sich das Gehör nach der Tiefenlage erweitert. Zwar war er in den Höhenlagen noch nicht ganz sicher, aber von dem Augenblick an, als das Gehör über die kleine Oktave hinabreichte, erkannte er alle Töne in allen Oktaven. Mit einemmal, fast über Nacht, war das gekommen. Psychologisch erklärt sich diese Tatsache aus dem plötzlich eingetretenen Vermögen, alle Töne auf die gleiche Tonhöhenebene zu projizieren. Er brauchte den Ton nur zu summen, so war er durch die Transposition in seine Stimmlage auch schon erkannt. Jetzt unterscheidet er auch bewußt die männliche Stimmlage von der weiblichen ("So hat er gesagt, aber tiefer") und vergleicht die Tonhöhenlage von Autohupen mit seiner Singstimme. ("Es war g, nur tiefer.") Auch empfand er zwischen den einzelnen Oktaven ganz bestimmte Helligkeitsdifferenzen. Ob er mit den einzelnen Tönen auch Farbvorstellungen verband, erscheint mir wenig wahrscheinlich zu sein, obwohl er sich damals auf Befragen äußerte: f sei blau und c sei rot. Bei keinem anderen Ton sprach er von einer Farbe und auch bei c und f später niemals mehr. Wenn seine Antwort auf die Frage nicht suggestiv erfolgt ist, was ich annehmen möchte, so erklärt sie sich vielleicht daraus, daß c und f von ihm bevorzugte Töne waren, die er früher aus oft gehörten Tonstücken heraushörte (Beethovens 32 Variationen und Brahms Intermezzo in b-moll), und rot und blau seine Lieblingsfarben, im Bewußtsein assoziativ damit verschmolzen. Zudem kann ich mir leicht denken, daß jemand die Tonfarbe von Beethovens Variationen als rot und die des Brahms schen Intermezzos mit dem Orgelpunkt auf f als blau empfindet. Mit dieser Entwicklung des Gehörs erwachte sein Interesse für die Töne des Klaviers. Er probierte, lernte die Tasten nach dem Gehör ohne jede Anleitung kennen, suchte gleiche Töne auf, zählte die Anzahl der c und f, wollte sein "Hänschen klein" mit einem Finger spielen und versuchte es zu transponieren, indem er bald mit diesem, bald mit jenem Grundton begann. In kurzer Zeit fand er sich auf der Tastatur zurecht und kannte sich in allen Höhenlagen sehr gut aus.

Noch nach einer dritten Seite hin hatte sich in dieser Zeit des äußeren Stillstands sein Tonbewußtsein entfaltet. Er unterschied mit vier Jahren sechs Monaten Dreiklänge, wenn man den Grundton stärker betonte. Ein besonderes Vergnügen ist es ihm jetzt, die Dreiklänge zu verteilen. Mit einer merkwürdigen Sicherheit tonpsychologischen Instinktes verbindet er Tonart und Persönlichkeit. F-dur gehört ihm, dem problemlosen Kind, Es-dur der guten, freundlich-vornehmen Mutter, D-dur dem herberen Vater und Cis-dur einem musikalischen Freunde des Hauses, der durch nichts besser als durch diese ungewohnte, komplizierte Tonart charakterisiert werden kann. Nun will er auch selber Dreiklänge bilden und bittet, daß man ihm Aufgaben stelle. Mit kleinen geschickten Fingern setzt er die genannten Töne zu Dreiklängen zusammen und versucht sie energisch anzuschlagen. In kurzer Zeit hat er ein solches Klangfarbenbewußtsein von der einzelnen Tonart erlangt, daß er sie kurzerhand nach einer auf der Violine gespielten Melodie bestimmt. Als ihm von dem Thema für Variationen aus Beethovens bekannter Trio-Serenade gesagt wurde, das sei Beethoven, antwortete er schlechthin: "Nein, das ist D-dur."

Unmittelbar nach dieser großen Entfaltung des absoluten Tonbewußtseins nähert sich unser kleiner A. R. mit vierdreiviertel Jahren dem Lebensalter, das man vielfach als erste Pubertät bezeichnet. Die körperliche Entwicklung folgte der geistigen erst nach. Aus dem Kind wird ein Bub mit knabenhaften Formen und Gewohnheiten. Sein Stimmumfang hat sich stark nach oben erweitert. Es ist, als wolle sich nach überstandener Krankheitskrise die kleine Persönlichkeit ausbreiten und als Eigenwesen in den Kreis der Familie treten. Schon hat er seine besondere Welt um sich. Türen fallen zu und Fenster tun sich auf. Mit scharfem Gehör prüft er alles, was ihn umgibt, beurteilt, erforscht und benennt die Dinge nach ihrem Klang. So spricht er von einem G-dur-Auto und einer g-Glocke, sein Schwesterchen weint c und eine Biene summt b, aus "einem Haus, wo die Tochter singt", hört er as. Die Welt ist für ihn voll von Tönen.

Nun war der Zeitpunkt gekommen, an eine systematische Pflege und Förderung der musikalischen Veranlagung des kleinen A. R. zu denken. Der Erfolg zeigte, daß es nicht verfrüht war. Mit dem Eintritt in das sechste Lebensjahr begann für ihn der erste Klavierunterricht. Da die Mutter selbst nach jeder Hinsicht dazu die beste Eignung besitzt, konnte er ganz individuell gestaltet werden. Täglich zehn Minuten, das genügte für den Anfang und war nicht zuviel. Alles wurde auswendig gespielt, nach dem Gehör. Heute, nach einem halben Jahr, spielt unser fünfeinhalbjähriger A. R. längst mit beiden Händen mehrere Kinderlieder, so .,Kuckuck, Kuckuck ruft's aus dem Wald" oder "Maikäfer flieg" nach dem Kinderliederbuch von Humperdinck im Originalsatz (nur ein Akkord mußte aus technischen Gründen umgelegt werden), ein Menuett von Bach in G-dur, einen Ländler in B-und einen Walzer in D-dur von Schubert [4]), dazu die Tonleitern in C-, G-, D-, A-, E-, F- und B-dur mit beiden Händen in Gegenbewegung, die leichteren davon bereits auch in gerader Bewegung zweihändig. Nebenbei lernte er noch die Noten kennen, so daß jetzt mit dem Spiel nach Noten begonnen werden kann.

Die Erfolge des ersten Unterrichts beruhen in der Hauptsache auf dem vorzüglichen Tongedächtnis, das über die Aufnahme von Einzeltönen ("Tonkörpern") hinweggeschritten ist, zur Aufnahme von Melodien und Harmonien ("Tongestalten"). Gehör und Tongedächtnis wirken aber nicht mechanisch, sondern bewußt. Er hört mit dem Intellekt. So weiß er am Abend noch ganz genau zu sagen, was er am Vormittag gespielt hat ("mit der rechten Hand c_e d_h c, mit der linken c_g f_g c_e"). Sein Gehör umfaßt bereits "Tongestalten" und durchdringt sie gedanklich. Das konnte man besonders schön beobachten, als er die D-dur-Tonleiter kennen lernte (C-dur und G-dur waren ihm geläufig). Beifällig sprach man davon bei Tisch. Nach einer Vorfrage von ihm "da ist dann d das c" begann er, mit dem Ausdrucke scharfer Konzentration im Gesicht, langsam, doch ohne Stocken, die D-dur-Tonleiter zu nennen; dabei betonte er das cis besonders kräftig, um es bedeutungsvoll hervorzuheben. Die Tonleiter wird also von ihm als Einheit von konstanten Tonfolgen erkannt, wo an ganz bestimmter Stelle eine bestimmte Tonstufenveränderung eintritt. All diese Dinge fühlt er nicht mit dunklem Instinkt, sondern erkennt sie mit klarem Bewußtsein. Ohne diese rationale Tätigkeit des Gehörs wären Urteile, wie die folgenden, unmöglich: "Die Fabrik hat c gepfiffen und wie sie aufgehört hat, war es b, also, wenn sie h pfeift, wird es a."-- "Was bei denen (auf einem alten, verstimmten Klavier) c ist, ist bei uns b."-- "Das, was ein d ist im Walzer (Grundton d im D-dur-Walzer von Schubert), das ist bei uns (- in der Tonart C-dur) ein c und unser h (= in C-dur) war ein cis (= in D-dur)." Streng logisch sind all diese Sätze nach Form und Inhalt. Sie zeigen, wie die Gehörsempfindungen apperzipiert und zu Urteilen geformt werden. Das Ohr ist für ihn ein Organ des Intellekts.

Sein Sinn für Tonreinheit und kleine Tonschwankungen hat ebenfalls nach dem fünften Lebensjahr auffallend zugenommen. Wiederholt korrigierte er unreine Töne auf dem Saiteninstrument. Einmal hört er sagen: "Das c war unrein", da fügt er gleich bei: "Das e und das fis auch." Mit seinem Großvater, der ebenfalls das absolute Gehör hat, macht er mit zwei Stimmgabeln, deren Tonhöhe nicht genau übereinstimmt, ein vergnügtes Hörspiel, wobei er den Großvater übertrifft.-- Von den vielen Beobachtungen, die sich noch mitteilen ließen, seien wenigstens einige angefügt. Er hört auf dem Spaziergang eine Grille zirpen und macht dazu seine Bemerkungen: "Das ist eigentlich kein Ton, sondern nur ein Pfeifen .... So cis (= ungefähr cis). Das ist so ein verstimmter Ton, den es auf dem Klavier nicht gibt." Daheim erzählt er seiner Mutter vom "Grillengeräusch" (!): "Das Grillengeräusch kann man nicht hören . . . Solche Töne sind's, die man nicht sagen kann . . . Wenn es auch richtig wäre (= ein reiner Ton), so kann man es doch nicht sagen, weil es zu hoch ist . . . So einen Ton gibt es auf dem Klavier nicht." Oder: Der Flügel wird gestimmt. Das zweigestrichene e paßt ihm nicht (es ist zu scharf), er kommt darüber nicht hinweg. Am andern Tage, als der Feinstimmer zur Nachprüfung kommt, muß dieser zugeben, daß eine Schärfe des Tones vorhanden ist.

Was er klingen hört, muß er bestimmen. Der Betätigungsdrang seines Ohres ist unersättlich. Glocken, Autos, Motoren, summende Bienen, Ventilatoren, Staubsauger, alles untersteht seinem Urteil. Als ein Staubsauger ins Haus kam, legte er sich daneben auf den Boden und summte zwei Töne (Motor und Behälter).-- "Der Ventilator summt b, jetzt h, jetzt ist's gar kein richtiger Ton mehr."-- Ein Auto, das auf ihn zufährt, hupt; er ruft: "b." Es hupt nochmals, als es vorbeiflitzt; er ruft: "Jetzt ist's a." Der Lautunterschied infolge der Bewegungsrichtung fällt ihm auf.-- Zwei Kinder spielen Reifen auf der Straße. "Der eine hat e, der andere f", das ist alles, was er dazu sagt. - Er ist mit der gis-Lokomotive" (Pfeifen) gefahren, auf der Rückreise war es "eine g-Lokomotive". Man spricht zufällig einmal von den vier Hausglocken. Er kennt die Tonhöhe einer jeden und benennt sie sofort, ohne daß er sie erst hören muß. Ganz für sich hat er sich also Rechenschaft darüber gegeben. Nach dem Ton richten sich sogar seine Werturteile. Häßliche Töne gefallen ihm nicht. Auch geht ihm die Tonempfindung über optische Eindrücke. Von einer Pendeluhr will er nichts wissen, weil sie "alt und blechern schlägt". Von zwei Taschenuhren wählt er die eine mit folgender Begründung: "Diese Uhr ist schöner. Die eine tickt nur, die andere gibt auch einen Klang." Die Schwungfeder klingt etwas nach, Sprungdeckel u. dgl. ist ihm dabei ganz nebensächlich.-- Von einer Dame fällt ihm nur die "leise" Stimme auf.-- Sehr merkwürdig ist folgendes Urteil: "Das Motorrad ist so schnell gefahren, daß es h gebrummt hat." Empfindet er wohl das h als Leitton und sein Drängen nach dem c hin? Eine ganze Reihe psychologischer Vorgänge setzt dieses Urteil voraus.

Er hört nun mit absoluter Sicherheit. Wenn er Fehler macht, so ist es Leichtsinn. Sobald er nachdenkt, verbessert er sie sofort. Zweiklänge analysiert er mit großer Sicherheit. Am leichtesten fallen ihm Sekunden (c d, f g) und dissonierende Halbtöne (b h, c cis), die er ohne Nachsummen sofort nennt. Nicht ganz so leicht tut er sich bei harmonischen Tonverbindungen; Nachsingen, erneutes von ihm gefordertes kräftiges Anschlagen ist manchmal nötig. Das Gewirr der Ober- und Untertöne, die er bereits auf-faßt ("ich höre g und noch etwas dazu"), scheint ihn zu verwirren. Psychologisch interessant ist die Tatsache, daß die bei Zweiklängen gemachten Fehler gewöhnlich zwischen den dargebotenen Tönen liegen. So hat er früher bei der Terz f_a ohne Besinnen g gerufen, bei es g einfach f. Ob die unbewußte Bildung eines Tonmittels psychologisch, physikalisch oder physiologisch zu erklären ist, entzieht sich bis jetzt meinem Urteil.

Ich schließe diesen ersten Teil meiner Arbeit mit dem Hinweis, daß unser kleiner A. R. auch die Tonart beim Orgelspiel, beim Streichquartett, bei mehrstimmigem Gesang mit Instrumentalbegleitung (Brückners Tantum ergo in D-dur) einwandfrei erkannt hat. Ob die Sänger eines mehrstimmigen gemischten A-capella-Chors in F-dur am Ende bis Fis-dur gestiegen waren, konnte ich leider nicht nachprüfen. Tempi, Tonlage und Direktion schienen danach angetan zu sein und unser kleiner A. R. ließ sich trotz wiederholter Einwände nicht davon abbringen, daß der Chor in Fis-dur und nicht in F-dur ausgeklungen habe [5].

II. Gesamtstruktur der werdenden Persönlichkeit

Das absolute Tonbewußtsein ist eine Sonderbegabung. Da jede Untersuchung einer Sonderbegabung zu der Frage nach dem Zusammenhang dieser Begabung mit der Persönlichkeit, in der sie ruht, führen muß, besteht die innere Notwendigkeit, wenigstens ein gedrängtes Bild von der Gesamtstruktur der werdenden Persönlichkeit unseres kleinen A. R. zu zeichnen. Nur die unitas personae vermag eine Erklärung für die Rätsel aller hervorstechenden Eigenschaften und Fähigkeiten zu geben. Was durch ererbte Anlagen auf sie gekommen ist, was Erziehung und Umgebung an sie heranbringen und wie sie selbst auf alle äußeren und inneren Faktoren ursprünglicher Veranlagung und äußerer Entwicklungsmöglichkeiten antwortet, all das steht mit der Gesamtpersönlichkeit in unlösbarem Zusammenhang und kann nur durch sie hindurch richtig erkannt und gewürdigt werden.

Unser kleiner A. R. zählte beim Abschluß dieser Arbeit fünfeinhalb Jahre. Seine Persönlichkeit steht erst in den Anfängen der Entwicklung, trotzdem zeigt sich schon nach mancher Hinsicht individuelle Prägung.

Körperlich gesund, kräftig und gut entwickelt macht unser kleiner A. R. den Eindruck eines wohlgepflegten, lebensfrohen Jungen. Leuten, die ihn zum erstenmal sahen, fiel seine schöne Kopfbildung auf, nach ärztlichen Urteilen ein ausgesprochenes Langgesicht mit stark gewölbtem Hinterkopf. Abgesehen von heftigem Keuchhusten im fünften Lebensjahre blieb er bisher von ernster Krankheit verschont. Besonders sei hervorgehoben, daß sich bei ihm niemals irgendwelche Anzeichen von Rachitis bemerkbar machten. In erbbiologischer Hinsicht liegen ebenfalls günstige Verhältnisse vor. Vater und Mutter stammen aus lebenskräftigen, gesunden Familien, in denen besondere hereditäre Leiden nicht vorhanden sind.

Das Milieu, in dem der Knabe als ältestes Kind aufwächst, verbürgt beste Pflege, gute Erziehung und Förderung aller geistigen Veranlagung, ohne daß darüber die Notwendigkeit körperlicher Ertüchtigung und Abhärtung vergessen würde. Im elterlichen Hause herrscht eine geistige Atmosphäre, die durch eifrige Pflege der Musik innere Wärme erhält. Die reinsten Freuden kommen den Eltern aus der Musik.

Der Vater, akademischer Beamter, ist zwar in praktischer Musikbetätigung aus äußeren Gründen über bescheidene Anfänge nicht hinausgekommen, hatte aber zeitlebens neben seiner Liebe zur Literatur und Philosophie ein ausgesprochenes Interesse für musikhistorische Fragen und liebt die Musik mit ungewöhnlicher Innigkeit. Musik ist für ihn nicht Zeitvertreib oder Vergnügen, sondern eine Offenbarung des Göttlichen im Menschen, eine heilige Stimme, die aus der Ewigkeit herüberdringt. Dieses Ergriffen-und Durchdrungensein von Musik mag für ihn ein großväterliches Erbteil mütterlicherseits sein, denn auch sein Großvater war der Musik leidenschaftlich ergeben, obwohl ihn starke zeichnerische Begabung nach einer anderen Richtung wies. Dies innere Umschließen der Musik steht gewiß in Wechselwirkung mit seinem ausgesprochenen Verständnis für Klangschönheit und seinem guten Gehör für Reinheit und Schönheit der Tonbildung.

Während der Vater mehr anregt und begeistert, ist die Mutter das musikalische Herz der Familie. Sie hat aus innerem Drang schon als Kind nach der Musik verlangt und nachdem sie in jungen Jahren bereits ein Musikexamen abgelegt hatte, später noch eine sehr gute mehrjährige künstlerische Ausbildung auf der Akademie der Tonkunst genossen. Ihre Liebe zum Geigenspiel, das sie als Kind nicht lernen durfte, veranlaßte sie später, es neben dem Klavier und Cello mit Eifer zu pflegen. Quartettspiel macht ihr viel Freude und fällt ihr nicht schwer, da sie ein sehr reines, zum mindesten vorzügliches relatives Gehör besitzt und ihr ein sehr gutes Gedächtnis für Melodien eigen ist. Schon als Kind sang sie mühelos Lieder und Arien nach dem Gedächtnis und auch jetzt fällt es ihr nicht schwer, eine nur wenig gehörte andere Stimme aus dem Gedächtnis mitzusingen, soweit es die Stimmittel ermöglichen. Infolge ihrer Ausbildung und ihres Lehrgeschickes kann der kleine A. R. keine bessere Unterweisung in der Musik finden als durch seine Mutter. Ohne ihn zu drängen oder zu überanstrengen, weiß sie seine Fähigkeiten richtig auszunützen; es ist ein vorzügliches Zeugnis für ihr Lehrtalent, daß es der kleine Klavierspieler als fürchterliche Strafe empfindet, wenn die Mutter einmal die Klavierstunde verweigern will aus erzieherischen Gründen; denn er liebt die Musik und hat seine Klavierstunde gern, wenn er auch nichts von der heftigen Musikbegeisterung des Vaters hat. Milieu und traditionelle Musikpflege wirken doch kräftig in ihm nach.

Auch die beiden Großväter des Knaben standen mit der Musik in enger Beziehung. Zwar war es nach der väterlichen Richtung mehr Beruf als innerer Drang. Trotzdem besitzt dieser Großvater infolge täglichen Orgelspiels das absolute Gehör (auf Grund des musikalischen Höhenmerkmales) [6].

Beim Großvater mütterlicherseits kam mehr die ursprüngliche Musikliebe zum Durchbruch; sie äußerte sich nicht bloß in unermüdlicher Pflege des Geigenspiels trotz anstrengender Berufstätigkeit, sondern auch in seiner großen Vorliebe für gute Instrumente und in der großzügigen Ermöglichung der musikalischen Weiterbildung seiner Tochter.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß die familiengeschichtlichen Erhebungen die Begabung des kleinen A. R. wohl erklären und günstige Bedingungen für seine weitere Ausbildung bilden. Dazu müssen wir hinzufügen, daß auch das Charakterbild des Jungen eine gute Weiterentwicklung in Aussicht stellt.

Eine Intelligenzprüfung nach Binet-Simon ergab einen Vorsprung von eineinhalb Jahren. Wir wollen diesen Vorsprung nicht als Überbegabung ansehen, sondern dem Milieu zuschreiben. Tatsache ist, daß der Knabe gegenwärtig in intellektueller Hinsicht seine Altersgenossen übertrifft und eine Steigerung der intellektuellen Leistungen leicht noch herbeigeführt werden könnte. Eine günstige Weiterentwicklung verspricht die Fähigkeit konzentrierten Denkens. Wenn es darauf ankommt, kann sich der Junge zu einer Höchstleistung zusammenraffen, die Erstaunen erregt. Ungewöhnlich ist auch sein Wortschatz und die Fähigkeit, sich auszudrücken. Konkrete Ausdrucksweise und Wortneubildungen sind ja diesem Alter eigen, aber nicht in solchem Überfluß, daß man täglich, fast stündlich neuen originellen Redewendungen begegnet. Vorstellung und Phantasie wirken lebhaft ineinander, wenn er z. B. die grüne Kastanie in einem Atemzug "Distel" und "Stachelhäuschen" nennt, wenn er von einem "Schneehut" (= Löwenzahn), von einem "Umherum" (= Gitter), einem "Lichtkessel" (= Glühbirne), einem "Aufhäubchen" (= Lampensturz), einem "Gesperr" (= Lattenverschlag), einem "Lufttelephon" (= Radio) spricht oder wenn er eine Wendeltreppe bezeichnen will: "eine Treppe, die so viele Falten macht rechts und links, oder ,Disteln' aus Draht, die die Menschen machen, damit man nicht hinlangt" (= Stacheldraht). Nie ist er um einen Ausdruck verlegen, auch wenn es sich um abstrakte Begriffe handelt. Wenn er etwas, von dem er sprechen wollte, vergessen hat, dann sagt er: "Es ist wieder abgestockt" oder "Es ist versickert". Wird etwas kleiner, so ist es "sinkig", wird er müde, dann ist er "fallerig", zittern ihm die Beine, so sind "seine Füße ängstlich". Wenn er einen Stock ins Wasser taucht, dann "scheint ein Stock in den andern". Wenn er den Regenschirm aufspannt, dann heißt es: "Jetzt mache ich einen Stern," macht er ihn wieder zu, dann sagt er: "Jetzt wird er wieder lahm!" Der Baum "rafft sich" (= verzweigt sich). Das Schiff "kahnt auf dem Wasser" (= schwankt) u. s. f. "Meine Nachtohren sind schlecht, da hör' ich nichts, aber meine Tagohren hören wunderbar." Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um die plastischen Ausdrucksmöglichkeiten zu zeigen, über die der Junge verfügt.

Von seinem musikalischen Gedächtnis war bereits die Rede. Er merkt Melodien und Harmonien und weiß die einzelnen Noten jederzeit zu benennen. Der stark intellektualistische Zug seines musikalischen Gedächtnisses tritt noch in anderer Weise bei seinen sonstigen Gedächtnisleistungen hervor. Verse merkt er rasch dem Sinne nach, der Wortlaut kümmert ihn wenig, ungewöhnliche Wortumstellungen verbessert er hartnäckig, selbst bei Liedertexten auf die Gefahr hin, daß der ganze Gesang in die Brüche geht. Daß er wirklich Verse lernen kann, hat er einmal trefflich bewiesen, als es darauf ankam. Im allgemeinen werden ihm keine Kinderverse eingeprägt, sein Gedächtnis soll nicht belastet und allzufrüh mit unnützen Dingen überlastet werden; auch hat er selbst gar keinen falschen Ehrgeiz danach.

Auffallen mag, daß bei ihm in sprachlichen Dingen das Rationale über das Musikalische geht. Man sollte meinen, der Klang der Verse würde sich seinem Ohr so unabänderlich einprägen, daß ihm gar kein Gedanke komme, etwas daran zu ändern. Wir hörten aber schon, daß er auch Melodien beim Gesang (nicht auf dem Klavier) ändert und neue Melodien auf einen bekannten Text singt. Die Abänderung ist gewollt, bewußt, freiwillig. Der aktive Zug fällt in beiden Fällen auf.

Ich glaube indes die Vorliebe für logische Wortstellung und Satzform mit einem wichtigen Charakterzug in Verbindung bringen zu müssen. Alles, was gerade, was ordentlich und exakt ist, das liebt er. ("Mutti, das mit dem Gockelhahn ist wunderschön: Um 4 Uhr aufstehen und um 4 Uhr ins Bett gehen; das zweimal 4 Uhr gefällt mir so gut." Ein typisches Beispiel für seine Einstellung.) Man kann bestimmt darauf rechnen, daß er die Dinge an ihren richtigen Platz bringt, daß er sie genau gerade nebeneinander ordnet. So stellt er auch die Worte nach ihrem Sinn, nicht nach ihrem Klang. Eine gewisse Pedanterie mag darin liegen, der positive Zug ist aber gewiß von großem Wert. Ordnungsliebe und Genauigkeit sind ihm ebenso eigen, wie Zuverlässigkeit und Pflichtgefühl. Aufträge führt er bestimmt und gewissenhaft aus; man kann sich hierin auf ihn verlassen. Seine persönliche Sauberkeit, seine Vorsicht und Achtsamkeit, seine nicht immer bescheidenen Ansprüche, ein gewisses Maß von Selbständigkeit und Eigensinn, seine absolute Gefälligkeit und Dienstbereitschaft, seine Einsicht und Nachgiebigkeit bei vernünftiger Klarlegung des Sachverhalts, all das stammt aus dem gleichen psychischen Urgrund und ist in seinem innersten Wesen fest verankert.

Trotz dieses konservativen Charakterzuges ist unser kleiner A. R. ein beweglicher, temperamentvoller Bub mit üppiger Phantasie, lebendigem Herzen und zart empfindender Seele, ein rechtes Kind in Wunsch, Spiel und Gemüt.

Musik steht, wie ich schon früher hervorhob, nicht im Brennpunkt seines Interesses; er liebt sie gewiß, seine Leidenschaft gehört aber Maschinen und Lokomotiven. Seit seinem zweiten Lebensjahr schwärmt er für Dampfmaschinen. Alles macht er mit Dampf oder elektrisch. Er geht "elektrisch zu Bett" und denkt fast an nichts anderes als an Eisenbahnen, Lokomotiven und elektrischen Strom. Seine Wißbegierde für diese Dinge ist unersättlich.

Aus diesem Dampf- und Elektrizitätsnebel taucht zeitweise ein anderes Interesse inselartig auf, um nach einiger Zeit wieder zu verschwinden. Mit drei Jahren interessierte er sich eifrig für Blumen, Pflanzen und Pilze; nach einem alten illustrierten Botanikbuch, das ihm damals zufällig in die Hand fiel, lernte er in kurzer Zeit ungefähr 120 botanische Namen kennen, für das Alter eine achtbare Gedächtnisleistung. Er behielt die Namen ohne Schwierigkeit. Meist genügte es, daß er sie einmal hörte, ähnlich wie die Töne auf dem Klavier. Täglich brachte er abends das Buch herbei, benannte die einzelnen Blumen und war erst zufrieden, wenn er ein paar hinzugelernt hatte. Sein botanisches Tagespensum gehört zu seinen täglichen Aufgaben, er war unglücklich, wenn es ihm verweigert wurde. Im 5. Lebensjahr erreichte seine Liebe zum Bauen mit Holzklötzchen ihren Höhepunkt. Aber auch hier ging ihm das selbständige Erfinden über das Reproduzieren, genau so wie beim Singen. Selbstgebildete oder willkürlich veränderte Melodien zog er ja immer bekannten und erlernten Weisen vor. Produktivität tritt also auch beim Spiel als charakteristisches Merkmal seiner geistigen Einstellung hervor, sie steht zum mindesten ebenbürtig neben seinen reproduktiven Fähigkeiten.

Wenn auch sein Hauptinteresse dem kindlichen Spiel und nicht der Musik gilt, so fühlt er doch immer die Nähe des Musikalischen und möchte es auch nicht missen. Sein gutes Gehör bildet für ihn eine feste Bindung an die Welt der Klänge und Geräusche und diese klingende Welt übt ihrerseits wieder eine starke Rückwirkung auf seine psychische Beschaffenheit aus. Von dieser Seite mögen die tiefsten und nachhaltigsten Einwirkungen auf sein Seelenleben herrühren. So ist er ungewöhnlich tonempfindlich. Schöne Klänge hört er gerne, Mißtöne, grelle Stimmen und "häßliche Geräusche" jeder Art beunruhigen, stören und quälen ihn, so daß er die Ohren zuhält oder davonläuft. Furchtempfindungen kennt er im allgemeinen nicht, er ist tapfer und mutig, aber Glockenläuten zur Abendzeit macht ihn bange, "weil sie immer etwas sagen".

Ernste Zurechtweisung, Tadel und "Schimpfen" ist für ihn so schmerzlich, daß er bittet, ihn zu zanken, sich die Ohren zuhält oder zur Sühne sich selber schlägt. Körperliche Züchtigung tut ihm gewiß nicht weher als heftige Scheltworte. Seinem empfindlichen Ohr, das so stark auf Schallreize reagiert, steht eine sehr große Intensität des inneren Mitempfindens gegenüber, eine innere Zartheit des Mitempfindens und Miterlebens, daß ihn eine unbesonnene Mitteilung von fremdem Leid und Unglück außer Fassung bringt; da weint er heftig, spielt und ißt nicht und kann vor Erregung nicht den Schlaf finden. Für seine Person ist er tapfer und mutig, wenn er eine Situation kennt, sonst aber vorsichtig und zurückhaltend. Ist jemand "häßlich" gegen ihn, so zieht er sich vollkommen zurück und macht einen Punkt für immer. Vieles, was andere Kinder leicht hinnehmen, ist für ihn schwer und problematisch.

So zeigt sein Charakterbild bereits starke Eigenprägung, die nach besonnener Führung in der Erziehung und Ausbildung verlangt.

III. Experimentelle Gehörprüfung

Um die bisher gemachten Mitteilungen über das absolute Gehör unseres kleinen A. R. zu ergänzen und auf wissenschaftlich einwandfreie Grundlage zu stellen, wurde eine ausgedehnte Prüfung seines absoluten Tonbewußtseins für notwendig erachtet. Zur Zeit der Prüfung zählte er genau fünfeinhalb Jahre. Es ist von Bedeutung, zu wissen, daß diese Prüfung ohne besondere Vor- und Einübung stattgefunden hat. Darum muß auch die leiseste Spur des Verdachtes, die Ergebnisse könnten durch wochenlanges Training herangezüchtet worden sein, von vornherein zurückgewiesen werden. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Mindestens sechs Wochen vor der Prüfung wurde nicht der geringste systematische Hörversuch an der Hand eines Musikinstrumentes gemacht. Wenn der Junge seiner Neigung folgend gelegentlich die Tonhöhe von Glocken oder Autohupen bestimmt hat, so kann man das gewiß nicht beabsichtigten Drill oder bewußtes Abrichten nennen. Die Ergebnisse der Prüfung sind demgemäß als spontan anzusehen und gewinnen dadurch an Wert und Bedeutung. Sie dokumentieren, wie tief und sicher in ihm die absolute Tonerkenntnis wurzelt.

Sämtliche Versuche wurden auf einen möglichst engen Zeitraum zusammengedrängt. Innerhalb einer Woche waren sie abgeschlossen. Der Junge war sich ihrer Bedeutung nicht im entferntesten bewußt; er hatte keine Ahnung, daß es sich um eine Prüfung handle; er sollte einfach wieder "hören". Seine Aufmerksamkeit ging darum auch über das gewohnte Maß nicht hinaus.

Bei dem ersten Versuch handelte es sich darum, einzelne Töne, die auf dem reingestimmten Flügel angeschlagen wurden, zu erkennen. Im ganzen schlug ich 70 Töne an, innerhalb jeder Oktave 10. Die Intervalle von je 10 sukzessive aufeinanderfolgenden Tönen überschritten niemals eine Oktave, wechselten aber ständig und bevorzugten besonders schwierige Tonschritte. Das Ergebnis war einwandfrei, jeder Ton wurde richtig erkannt. Die Lösungen vollzogen sich so rasch, daß der ganze Versuch in einigen Minuten beendet war. Meist erfolgten sie unmittelbar, spontan, ohne Besinnen. Nur bei einer geringen Anzahl von Tönen wurde der Ton in der Stimmlage nachgesummt. Bedenken machten nur drei Töne, zwei in der untersten und einer in der obersten Oktave. Nach anfänglichem Schwanken wurden auch sie richtig erkannt. Der erste Versuch zeigt also, daß sich das absolute Gehör des A. R. nicht nur auf die gebräuchlichen mittleren Tonlagen erstreckt, sondern alle Tonhöhen in gleichem Maße umfaßt.

Der zweite Versuch bildete eine Fortsetzung und Ergänzung des ersten Versuchs unter erschwerten Umständen. Während die einzelnen Tonserien beim ersten Versuch innerhalb des diatonischen Tonsystems lagen, wobei allerdings mit Vorliebe ungewöhnliche Tonschritte bei der Darbietung gewählt wurden (auch verminderte oder übermäßige Intervalle), wurde jetzt von einer harmonischen Beziehung der einzelnen dargebotenen Töne ganz abgesehen und zu chromatisch aufeinanderfolgenden Tonreihen von je zehn Tönen übergegangen. Diese chromatischen Tonfolgen erstreckten sich auf alle Tonhöhenlagen in aufwärts- und abwärtsführender Bewegung. Sämtliche Töne wurden ausnahmslos in taktmäßig aufeinanderfolgenden Antworten richtig benannt. Dieser Versuch zeigt, daß das Gehörvermögen des fünfeinhalbjährigen Jungen auch im atonalen Tonraum mit ungewöhnlicher Sicherheit Bescheid weiß und eine größere Anzahl aufeinanderfolgender Halbtöne richtig abzugrenzen, aufzufassen und zu benennen vermag.

Der nächste Versuch bot ungewöhnlich große Tonschritte. Zwischen zwei nacheinander dargebotenen Tönen lag mindestens ein Tonraum, der eine Oktave überschritt, meist sogar zwei, drei, vier oder fünf Oktaven. Mit Vorliebe wählte ich chromatische Tonfolgen, verminderte und übermäßige Tonschritte, in ausein-andergerückter Lage wie contra h-- b2 oder fis3-- contra f. Von zwanzig Tönen wurden neunzehn absolut sicher erkannt, nur subcontra b wurde als h bezeichnet und trotz wiederholter Aufforderung nicht verbessert. Es liegt aber auch hier kein Hörfehler vor, der Ton scheint auf dem Flügel faktisch verstimmt zu sein, er klingt auffallend nah an das subcontra h heran, das als h richtig erkannt wurde. Ein Beweis dafür, daß selbst in diese tiefen Regionen das absolute Gehör des kleinen A. R. hinabreicht, ist die Tatsache, daß die beiden Subcontraganztöne a und h wiederholt richtig benannt worden sind, wenn sie mit starkem Anschlag dargeboten wurden; die Vp. brauchte sie nicht einmal durch Nachsingen in die gebräuchliche Stimmlage zu übertragen. Nachsummen der Töne erfolgte bei diesem Versuch überhaupt nur in einigen Fällen. Meist wurde der Ton ohne Übertragung durch Nachsingen in mittlerer Tonlage richtig erfaßt, ein Beweis dafür, daß das Ohr der Vp. unbeeinflußt von der Tonhöhe den absoluten Toncharakter des Einzeltones durch verschiedene Oktaven hindurch mit dem inneren Ohr erfaßt. Diese Tatsache kennzeichnet auch die Art des absoluten Gehörs der Vp. Es bezieht sich auf die Qualität des Tones [7], die sich bei der Vorführung der Tonreihe in der Periodizität, die sich in den Oktaventönen geltend macht, äußert und weniger auf die Tonerkenntnis auf Grund des Höhenmerkmales der Tonempfindungen beruht. Diese psychologische Bestimmung der Art des absoluten Gehörs unserer kleinen Vp. erhält durch den folgenden Versuch eine neue Bestätigung.

Auf drei verschiedenen Streichinstrumenten, auf Violine, Viola und Cello, wurden je zehn Töne in verschiedenen Höhenlagen sukzessiv dargeboten. Die Vp. hatte die Aufgabe, die einzelnen Töne am Flügel anzuschlagen, ohne sie mit dem Namen zu benennen. Zwischen dem dargebotenen Ton und der aktiven Wiedergabe auf dem Instrument liegen eine ganze Reihe psychologischer Vorgänge, wie die "Wahrnehmung des Reizes, die apperzeptive Erkenntnis der Tonhöhe und gleichzeitige Abstraktion der Klangfarbe des angewandten Instrumentes, die Einreihung der Tonempfindung in eine bestimmte Tonregion (Oktave), die assoziative Verbindung des bisherigen Bewußtseinsinhalts mit der im Bewußtsein vorhandenen Klangempfindung, die durch das Anschlagen einer bestimmten Taste auf dem Flügel hervorgerufen wird, endlich der aus dieser Bewußtseinslage hervorgehende Willensakt der Reproduktion des Tones. Diese Menge psychologischer Vorgänge bereitete der kleinen Vp. nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern die Vp. vermehrte sie aus einem inneren Lustgefühl überlegener Hörfreudigkeit heraus, um einen weiteren psychologischen Vorgang, indem sie wiederholt den schon über die entsprechende Tonregion ausgestreckten Finger zurückzog und den fraglichen Ton in einer anderen Tonhöhenlage (Oktave) ohne Irrtum und Zögern richtig anschlug. Sie komplizierte also selbst noch das Experiment. In dieser freiwilligen Oktaventransposition des Tones glaube ich mit vollem Recht eine neue Bestätigung für meine oben angeführte Behauptung sehen zu dürfen, daß bei unserem kleinen A. R. die Fähigkeit der Tonerkennung nach der Qualität erfolgt. Der eben beschriebene Versuch zeigt auch noch etwas anderes. Die Tonerkenntnis vollzieht sich unabhängig von der Klangfarbe des Instrumentes und der Art der Darbietung. Gestrichene Töne werden ebenso gut erkannt als gestoßene, gerissene und gezupfte. Es besteht kein Zweifel, daß die Vp. imstande ist, über die Töne der gebräuchlichen Orchesterinstrumente absolute Tonhöhenurteile abzugeben. Glocken, Autohupen, Dampfpfeifen, Ventilatoren, Weingläser, Zimmeruhren usw. unterliegen, wie bereits früher mitgeteilt wurde, der Kontrolle seines tonbegierigen Gehörs.

Die Abstraktion von der Klangfarbe bei den beschriebenen absoluten Tonhöhenurteilen schließt die Erkenntnis von Tonkomplexen nach der Klangfarbe keineswegs aus. Diese Tatsache wurde durch die folgende fünfte Versuchsreihe einwandfrei festgestellt. Es sind nacheinander zehn verschiedene Dreiklänge, dur und moll gemischt, angeschlagen worden. Auf die Tonregion (Oktavenlage) nahm ich keinerlei Rücksicht, was für den Versuch von vornherein eine Erschwerung bedeutete. Sämtliche Dreiklänge (C-moll, Es-dur, f, D, g, E, fis, H, es, a) machten der kleinen Vp. keine Schwierigkeit. Rasch und spontan erfolgten die richtigen Benennungen, wobei dur und moll streng unterschieden wurden. Die Bestimmung der Tonarten wie des Tongeschlechts vollzog sich zweifelsohne auf Grund eines charakteristischen Gesamteindruckes, durch den die Komponenten des dur- und moll-Dreiklanges mittelbar gegeben sind. Ganz bestimmte Bewußtseinslagen des Klangfarbengedächtnisses machten die Erkenntnis der Tonarten und des Tongeschlechtes möglich, ohne daß die Tonkomplexe in ihren einzelnen Komponenten aufgelöst und die einzelnen Teilinhalte apperzipiert wurden. Zur Kontrolle dessen ließ ich die Vp. nachher einzelne Dreiklänge dem Gehör nach auf dem Flügel selber bilden, was verschiedentlich Mühe bereitete. Erst nach einer Reihe von Selbstkorrekturen bei den einzelnen Komponenten der Dreiklänge gelang es, den im Tongedächtnis vorhandenen Klangfarbenkomplex zustande zu bringen.

Zwei Fragen liegen nahe: Ist der kleine A. R. imstande, bei fortklingenden Tönen neu hinzukommende sicher aufzufassen? Die (beinahe selbstverständliche) Antwort hierauf wurde durch eine Reihe vollkommen gelungener Versuche gegeben. Das absolute Gehör unserer kleinen Vp. vermag trotz fortklingender konnonierender und dissonierender Klänge neu hinzukommende Töne in unbeschränkter Anzahl zu erkennen.

Die zweite Frage hat größere Bedeutung. Sie lautet: "Inwieweit vermag das absolute Gehör des A. R. Zweiklänge und Mehrklänge zu analysieren." Ich begann damit, Zweiklänge mit gleichbleibendem Grundton und abwechslungsweise mit dazugehöriger Terz, Quinte, Quarte, Sext und Sept darzubieten: also fünf Tonpaare, bei denen der Grundton unverändert blieb, während der zweite höhere Ton innerhalb des diatonalen Tonsystems wechselte. Die Analyse gelang bei allen fünf Tonpaaren, ganz leicht bei der Terz, die übrigen Intervalle erforderten erhöhte Konzentration und angestrengtere Aufmerksamkeit unter Zuhilfenahme gesanglicher Reproduktion. Für einen zweiten Versuch wählte ich weitere fünf Tonpaare mit den gleichen Intervallen wie oben, nur wechselten diesmal beide Töne, doch bot ich sie in der gleichen Reihenfolge dar. Bei gesteigerter Aufmerksamkeit und wiederholtem Probieren gelang es auch hier, die Komponenten herauszuhören; doch mußten die einzelnen Tonpaare zwei- bis dreimal im Forte angeschlagen werden. Interessant war bei diesen beiden Versuchen, daß bei Terz und Quinte in beiden Fällen zuerst der Grundton erkannt wurde, bei Quarte, Sext und Septime der höhere Klang.--

Um die Leistungsfähigkeit in der Analyse von Mehrklängen noch weiter zu prüfen, bot ich dissonante Dreiklänge, die ich der Abhandlung von Geza Revesz, "Prüfung der Musikalität", entnahm1), im ganzen vier: fis_c _d, cis_f_g, h_cis_f und e_f_a. In den beiden ersten Fällen wurden zwei, bei den übrigen sogar alle drei Komponenten richtig erfaßt. Wenn man in Betracht zieht, daß noch nie mit dem Jungen der Versuch gemacht worden ist, konsonante Dreiklänge zu analysieren, so muß das Ergebnis bei der Analyse dissonanter Dreiklänge um so mehr erstaunen.

Zweifelsohne ist das Gehörvermögen des A. R. imstande, bei einiger Übung auch die schwierigsten Tonkomplexe in ihren einzelnen Komponenten aufzufassen und zu erkennen.

Gesamtbild

Das absolute Gehör des kleinen fünfeinhalbjährigen A. R. zeigt eine Stufe der Entwicklung, die ungewöhnlich ist. Zum mindesten bietet es außerordentlich günstige Voraussetzungen für musikalische Betätigung jeglicher Art.

Zur vollen Auswirkung wird diese hervorragende Naturanlage aber erst dann gelangen, wenn die entsprechenden musikalischen Fähigkeiten dazu kommen, deren Prüfung außerhalb des Rahmens dieser Arbeit liegt, und musikalische Erziehung und Ausbildung ein so kostbares Geschenk richtig zu nutzen verstehen.


[1] Vgl. dazu K. Marbe, Über Persönlichkeit, Einstellung, Suggestion und Hypnose. Zsch. f. d. ges. Neurol. und Psychiatrie. Bd. 94. 1924. (Festschrift für Robert Sommer.) S. 359 ff.-- Derselbe, Über Einstellung und Umstellung. (Nach einem auf dem Psychologenkongreß München 1925 gehaltenen Vortrag.) Zsch. f. angew. Psychol. Bd. 26. 1926. S. 43 ff.-- Derselbe, Der Psycholog als Gerichtsgutachter im Straf- und Zivilprozeß. Stuttgart. 1926. (Kap. 8: Gutachten in einem Mordprozeß. Gnadengesuch.) S. 68 ff.-- L. Sell, Persönlichkeitsbeschreibung eines normalen zwölfjährigen Knaben. (Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung.) Zsch. f. angew. Psychol. Bd. 29. 1928. S. 463 ff.-- M. Schorn, Zur Psychologie des frühbegabten Kindes. Zsch. f. Psychol. Bd. 105. 1928. S. 302 ff.

[2] H. König, Zur experimentellen Untersuchung der Musikalität. Würzburger Dissertation 1925.-- Derselbe, Über das musikalische Gedächtnis.
Zsch. f. Psychol. Bd. 108. 1928. S. 195 ff.

[3] C. Stumpf, Akustische Versuche mit Pepito Arriola. Zsch. f. angew. Psychol. Bd. 2. 1909. S. 1 ff.

[4] Entnommen aus: Frida Löwenstein, Der erste Klavierunterricht. Hrsg. von F. Vieweg, Berlin-Lichterfelde.

[5] In der Zwischenzeit habe ich durch eine Mittelsperson von dem Kapellmeister erfahren, daß der Chor tatsächlich um einen halben Ton gestiegen war.

[6] Vgl. hierzu G. Revesz , Prüfung der Musikalität. Zsch. f. Psychol. Bd. 85. 1920. S. 179 ff.

[7] 1) Vgl. G. Revesz, Prüfung der Musikalität. Zsch. f. Psychol. Bd. 85. 1920. S. 179 ff.

[8] G. Revesz, a. a. O.