Über die beiden Arten des absoluten Gehörs.

(Tonqualitätserkennung und Tonhöhenerkennung.)

Originally published in Zeitschrift Internationalen Musikgesellschaft, 14, 130-7.

Géza Révész, Budapest.

Durch unmittelbare Betrachtung der Tonreihe und durch Versuche bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß jeder Ton, außer seiner Intensität und Klangfarbe, nicht-- wie bis jetzt im allgemeinen angenommen wurde-- eine musikalische Eigenschaft hat, sondern daß ihm zwei voneinander unabhängige musikalische Eigenschaften zukommen [1].

Die eine musikalische Eigenschaft, die ich Qualität des Tones nenne, äußert sich bei der Vorführung der Tonreihe in auffallender Weise in der Periodizität, die sich bei den Oktaventönen geltend macht, da in den Tönen, die im Oktavenverhältnis stehen, ähnliche Empfindungen wiederkehren. Die andere musikalische Eigenschaft, für die ich den Namen Höhe de» Tones beibehalten will, kommt bei der Vorführung der Tonreihe in der Erscheinung des Steigens oder des Sinkens zum Ausdruck. Spielen wir eine Tonleiter durch mehrere Oktaven, so drängt sich die Unterscheidung dieser beiden musikalischen Merkmale von selbst auf. Denn einerseits nehmen wir eine in gleichbleibender Richtung vor sich gehende Veränderung wahr, andererseits aber haben wir den Eindruck, daß in jeder Oktave sich irgend etwas wiederholt. Was sich nun von Oktave zu Oktave wiederholt, ist die Qualität, was sich dagegen in konstanter Richtung verändert, ist die Höhe der Tonempfindung [2].

Ähnlichkeit rührt in vielen Fällen von partieller Gleichheit her, d. h. von Überstimmung eines oder mehrerer Elemente. So verhält sichs auch hier, die Ähnlichkeit der Oktaventöne hat ihren Grund in der Gleichheit des Qualitätsmerkmales. Die Ähnlichkeit kommt den Oktaventönen aber ursprünglich zu. Die Auffassung, daß sie auf mittelbarem Wege zustande käme, etwa wie sich Helmholtz es dachte, als er die Oktavenähnlichkeit durch 'gemeinsame Partialtöne zu erklären suchte, konnte ich widerlegen, indem ich nachgewiesen habe, daß auch bei obertonfreien Tönen, wo also alle Obertöne ausgelöscht sind, der Ähnlichkeitseindruck der Oktaven genau so auftritt als bei obertonreichen Tönen. Daß Oktaventöne doch nicht schlechthin identisch sind, beruht darauf, daß sie sich durch das andere Merkmal, die Höhe, unterscheiden.

Das Gemeinsame in den Oktaventönen wird auch in den musikalischen Namen der Töne zum Ausdruck gebracht, da alle Oktaventöne denselben Namen tragen. Der Unterschied der Oktaventöne hingegen kommt in den musikalischen Namen in der Bezeichnung der Oktavenlage zum Ausdruck. Die Qualität bestimmt also den Namen, die Höhe den Index (ein- oder zweigestrichene etc.). c1 und c2 haben beide denselben Namen c, weil sie gemeinsame Qualität haben, sie haben aber verschiedene Index, weil sie hinsichtlich der Höhe verschieden sind.
Diese Auffassung der Tonreihe wird dem Musiker viel mehr einleuchten, und stimmt mit seinen Beobachtungen viel mehr überein, als die übliche Auffassung, die jedem Tone nur eine musikalische Eigenschaft, die Tonhöhe, zuschreibt.

Einen sehr wichtigen Beweis für meine Auffassung erbrachte ich dadurch, daß ich beobachten konnte, wie sich die beiden Eigenschaften aus ihrer gewöhnlichen Verbindung lösen und dadurch habe ich nachgewiesen, daß die zwei musikalischen Eigenschaften voneinander unabhängig und real trennbar sind.

So habe ich unter anderen in einem Falle von Ohrenverstimmung nachgewiesen, daß dem Untersuchten verschiedene Qualitäten in einer Höhe erschienen. Man stelle sich die Sache so vor, daß z. B. zwei Qualitäten, wie etwa e und f, beide in der Höhe der zweigestrichenen g wahrgenommen Werden. Zwischen diesen zwei Tonempfindungen war nur ein Qualitätsunterschied, aber nicht zugleich auch ein Höhenunterschied zu bemerken.

Auch das Gegenstück hiezu, d. h. eine Qualität in verschiedenen Höhen ließ sich auffinden. Jeder Normalhörende kann sich hievon bei den Oktaventönen überzeugen. Unter pathologischen Verhältnissen aber kommt es sogar vor, daß eine große Reihe von benachbarten Tönen dieselbe Qualität hat; alle haben sie dabei ihre normale Höhe, also jeder eine andere. So kam es vor, daß nahezu alle Töne von d3 bis gis4 die Qualität dis hatten. Die Verschiedenheit der Höhen äußerte sich vor Allem darin, daß beim Spielen einer Tonleiter in dieser Region der Eindruck des Steigens und Sinkens genau so auftrat, wie normalerweise.

Ja es ist sogar möglich, eine qualitätslose Höhenreihe zu demonstrieren. In dem obersten Teile der hörbaren Tonreihe sind Qualitäten nicht zu beobachten, d. h. man kann diese hohen Töne nicht nachsingen, man kann Ihnen keinen Ton im musikalischen Gebiet als Oktave oder Quint etc. zurdnen, aber die Töne unterscheiden sich der Höhe nach deutlich voneinander.

So viel mag hier genügen. Ich verweise übrigens auf meine ausführliche Arbeit: Zur Grundlegung der Tonpsychologie. Leipzig 1913.

Diese Anschauungen stehen in engem Zusammenhang mit gewissen wichtigen Fragen des absoluten Gehörs.

Man hat bis jetzt allgemein angenommen, daß es Menschen gebe, die absolutes Gehör haben, und solche, die es nicht haben. Es wurde also zwischen diesen zwei Kategorien von Menschen eine scharfe Grenze gezogen. Demgemäß hat man natürlich nur solche untersucht und Beobachtungen nur von solchen gesammelt, bei denen sich das absolute Gehör in irgendwelcher Weise, sei es in der Fähigkeit, den gehörten Ton richtig zu benennen oder einen bezeichneten Ton richtig zu reproduzieren u. dgl., in augenfälliger Weite äußerte. Die übrigen, die weitaus in der Mehrzahl sind, hat man einfach vernachlässigt, da ihnen die Fähigkeit, Töne auf Grund irgend eines absoluten Momentes zu bestimmen, gänzlich abgesprochen wurde.

Untersucht man die mit dem sog. absoluten Gehör begabten Menschen, so findet man, daß sie in der Kegel Töne nur innerhalb einer engen oder weiter begrenzten Region der musikalischen Tonreihe richtig benennen können; von dieser Region abwärts wie aufwärts dagegen werden ihre Urteile unrichtiger und subjektiv unsicherer, bis man endlich zu einer Grenze kommt, worüber hinaus von absoluten Tonurteilen nicht mehr gesprochen werden kann.

Ein gutes Beispiel liefert O. Abraham in seiner Arbeit über das absolute Tonbewußtsein [3]. Er selbst beurteilte die Töne von Fis bis f4 durchweg richtig von Fis bis Ais1 und von fis4 bis eis5 kamen aber schon Fehler vor, die jedoch eine halbe Tonstufe nach oben und unten nicht überschritten. Die Töne Ais1 und eis5 repräsentieren bei Abraham scharfe Grenzen, denn darüber hinaus wächst die Ungenauigkeit der Urteile plötzlich sehr stark, 80 daß fast bei allen Tönen zwischen Ais1 und Dis2 die Abweichungen vom richtigen Urteil eine Terz, und in der hohen Lage mit Ausnahme der ersten zwei Töne, also bei allen Tönen zwischen d5 und d6, sogar eine Quart oder Quint betrugen. Ähnliches fand ich bei zwei mit absolutem Gehör begabten Versuchspersonen, von denen der eine der junge Komponist Ervin Nyiregyházy war, dessen absolutes Gehör an Genauigkeit und Umfang wohl eines der stärkst entwickelten ist.

Schon diese Eigentümlichkeiten des absoluten Gehörs fordern eine Erklärung, nämlich daß es überhaupt ein regionäres (nur für eine Strecke der Tonregion entwickeltes) absolutes Gehör gibt, daß außerhalb des durch absolutes Gehör ausgezeichneten Tongebiets die Genauigkeit des Urteils abnimmt, und daß sich das Gebiet, wo fehlerhafte Urteile vorkommen, wiederum in einen inneren Bezirk größerer und einen äußeren Bezirk kleinerer Genauigkeit sondert.

Wie erklärt sich nun, daß ein mit absolutem Gehör ausgestatteter Mensch bestimmte Töne richtig, andere annähernd richtig und wieder andere schon mit großer Ungenauigkeit beurteilt?

Der nächstliegende Gedanke ist der, daß die Verschiedenheit der Urteile auf einer Verschiedenheit des Urteilskriteriums beruhen möchte, also darauf, daß sich der Beobachter in einem Falle auf andere Merkmale seiner Tonempfindung stützt, als im anderen. Ich behaupte nun, daß sich diese Tonurteile tatsächlich auf zwei Urteilskriterien gründen, und daß man nach diesen zwei Kriterien zwei Arten von absolutem Gehör unterscheiden muß.

Ich komme nun auf meine Anschauungen über die zwei musikalischen Eigenschaften der Töne zurück, um die eben aufgestellten Behauptungen damit in Zusammenhang zu bringen.

Es ist klar, daß sich jedes absolute Tonurteil entweder auf die eine oder auf die andere dieser beiden Eigenschaften oder auf beide zugleich gründen maß, also entweder auf die Qualität oder auf die Höhe des Tones, oder auf beide. Ich unterscheide danach Tonqualitätenerkennung und Tonhöhenerkennung.

Die stets richtigen Urteile eines mit dem sog. absoluten Gehör ausgestatteten Menschen beruhen auf seiner Fähigkeit, Tonqualitäten zu erkennen. Die Tonempfindung hat für diese Menschen durch ihre Qualität etwas individuelles. Töne, die keine Qualitäten haben, wie z. B. sehr hohe Töne oder die meisten tonartigen Geräusche, haben auch keine musikalische Individualität, sie werden darum mit ihren Nachbartönen verwechselt. Die Beobachter geben selbst an, daß ihnen die Töne als Individuen erscheinen, daß z. B. allen f-Tönen etwas gemein ist, was sie etwa von allen g-Tönen usw. unterscheidet, und daß es daher komme, daß sie sie niemals verwechseln.

Nun ist es sehr merkwürdig, wie es kommt, daß derselbe, der etwa ein f mit einem g in der mittleren Lage niemals verwechselt, in einer tieferen oder höheren Region f für g, oder sogar für as hält. Dieses Verhalten des Beobachters ist nun damit zu erklären, daß er in dieser Region aus irgendwelchem Grunde ein anderes Urteilskriterium verwendet als in der Mittellage, nämlich die Höhe (Höhenerkennung). Daß nun das Urteil des Beobachters, wenn er sich nach diesem Merkmal des Tones richtet, weniger genau ausfällt, als wenn sich ihm das qualitative Merkmal aufdrängt und er dadurch bestimmt wird, beruht darauf, daß die Tonempfindung durch das Höhenmerkmal nichts Individuelles erhält. Ähnlich nun wie im Spektrum die einzelnen Farben verschieden hell erscheinen, ihre Individualität aber nicht durch diese Verschiedenheit der Helligkeit erhalten, so erscheinen in der Tonreihe die einzelnen Qualitäten in verschiedener Höhe, erhalten aber ihre Individualität nicht dadurch, sondern durch das qualitative Merkmal.

Allerdings hat jeder Ton nur eine Höhe, und insofern ist auch die Höhe etwas, was ihm individuell zukommt. Dennoch zeigt die Beobachtung, daß dadurch nicht der Eindruck einer Individualität wie bei den Qualitäten zustande kommt. Es verhält sich damit ähnlich wie in der Reihe der Grau-Wne, die von schwarz bis weiß führen, wo jedes einzelne Grau seine Helligkeit hat, die nur ihm zukommt, ohne daß uns doch die einzelnen Grautöne als Individualitäten erschienen und sich als solche einprägten, wenn wir nicht etwa die Aufmerksamkeit ganz besonders auf die einzelnen Glieder der Reihe richten. Es ist sogar fraglich, ob das unter diesen Umständen überhaupt gelingen kann. So prägen wir uns auch die »individuelle« Höhe der Töne Dicht ein; wir haben sie für die Bestimmungen eines Tones auch nicht nötig. Denn bei der Beurteilung eines Tones durch das absolute Gehör genügt es vollständig, wenn wir außer der Qualität die ungefähre Lage des Tones kennen, wenn wir auf Grund seiner Höhe erkennen, ob der Ton etwa in der ein- oder zweigestrichenen Oktave liegt. Wir brauchen z. B. die individuelle Höhe des Tones c2 nicht zu kennen; sobald wir ihn durch die Tonqualitätenerkennung als ein c erkannt haben, genügt es vollständig, wenn wir wissen, daß Höheneindrücke wie der eben wahrgenommene für die zweigestrichene Oktave bezeichnend sind. Ich komme mit einem Worte mit der Kenntnis der regionären Höhe aus.

Das regionäre absolute Gehör haben wir uns also so vorzustellen, daß inj der Tongegend, wo die absoluten Tonurteile genau sind, nach Qualität geurteilt wird, wobei selbstverständlich auch die Höhe eine Rolle spielt (Oktaven1bezeichnung), in den Tongegenden aber, wo Abweichungen vorkommen, die Höhe allein für das Urteil maßgebend wird.

Der Unterschied dieser beiden Arten des absoluten Gehörs zeigt sich auch im psychischen Verhalten des Beobachters, d. h. in der Art, wie er zuseinem Urteil kommt. Wenn er die Töne nach Qualität erkennt, so urteilter rasch, subjektiv sicher, die Namen der Töne kommen ihm unmittelbar, ohne sein Zutun, er verhält sich sozusagen psychisch passiv. Muß er dagegen die Töne nach der Höhe feststellen, so bestimmt er sie in der Regel nur nach längerem Besinnen, mit geringerer subjektiver Sicherheit, und er verhält sich beim Urteilen eher aktiv, d. h. er gewinnt das Urteil durch bewußte Tätigkeit, die sogar merklich anstrengend sein kann. Ein Versuchbelehrt uns viel besser als lange Erklärungen.

Es ist bemerkenswert, daß man die beiden Arten des absoluten Gehör» in derselben Region nachweisen kann, wenn man sich den Umstand zunutze macht, daß Töne von bestimmter Klangfarbe in der Regel viel schwerer erkannt werden als andere; meist bereiten gesungene Töne besondere Schwierigkeit, während die Erkennung von Klavier- und Geigentönen leicht zu fallen pflegt. Man kann dabei sehr leicht nachweisen, daß der Beobachter bei gesungenen Tönen nach der Höhe, bei Klavier- und Geigentönen dagegen vor allem nach der Qualität urteilt.

Ein Fall von zwingender Beweiskraft ist der, wo der Beobachter die Töne nach Belieben der Höhe oder der Qualität nach bestimmte [4]. Bei diesem Beobachter war ein Teil der Tonreihe wegen Ohrenverstimmung so beschaffen, daß eine große Reihe benachbarter Töne dieselbe Qualität hatte, dabei aber die Höhen normal geblieben waren. Es gelingt nun, ihn auf die beiden Urteilskriterien besonders zu instruieren. Man erhält dann tatsächlich zwei verschiedene Urteile, eines auf Grund seines qualitativen absoluten Gehörs und ein anderes auf Grund seiner Tonhöhenerkennung. Die absoluten Qualitätsurteile ergeben natürlich stets dieselbe Qualität (in einem Fall z. B. stets gis, also stets objektiv falsche Urteile), die absoluten Höhenurteile dagegen annähernd objektiv richtige. So wurden z. B. in einem Fall die sämtlichen Töne zwischen c3 und h3 der Qualität nach als cis beurteilt, der Höhe nach dagegen verschieden, wie die Tabelle zeigt.

Aus allen bisherigen Beobachtungen läßt sich entnehmen, daß alle mit absolutem Gehör ausgestattete Menschen neben der Fähigkeit der Tonqualitätserkennung noch die der Tonhöhenerkennung haben. "Was man bis jetzt als absolutes Gehör bezeichnet hat, war das qualitative absolute Gehör. Der Unterschied zwischen einem Menschen mit totalem und einem solchen mit regionärem absoluten Gehör ist der, daß der totale für die ganze oder nahezu ganze musikalische Tonregion neben der Fähigkeit der Tonhöhenerkennung noch eine Tonqualitätenerkennung hat, der regionäre hingegen aeben einer Tonhöhenerkennung nur eine regionäre, d. h. sich nur über eine bestimmte Tonregion erstreckende qualitative Tonerkennung besitzt.

Der mit regionärem absoluten Gehör ausgestattete Mensch ist das Bindeglied zwischen zwei Kategorien von Menschen, nämlich zwischen denen, die nach der heutigen Auffassung absolutes Gehör haben und denen, die eines solchen entbehren. Ich habe durch Versuche festgestellt, daß sich Tonhöhenerkennung bei sehr vielen Menschen findet; ich fand sie bei allen, die ich bis jetzt untersucht habe. Und abgesehen vielleicht von den ganz unmusikalischen Menschen, bin ich der Überzeugung, daß alle Menschen imstande sind, Töne nach absoluter Höhe mit Hilfe ihrer Tonhöhenerkennung zu beurteilen.

Ich habe nämlich mit Musikalischen und Nichtmusikalischen Versuche derart angestellt, daß ich verschiedene Töne am Klavier anschlug und den Beobachter aufforderte, den gehörten Ton am Klavier (durch Anschlagen der Taste) anzugeben. Nach geschehenem Anschlag war weiteres Suchen nicht erlaubt. Es ergab sich, daß auch solche, die niemals musizierten und nur eine ganz grobe Vorstellung von der Lage der Töne an der Klaviatur hatten, angeschlagene Töne mit einer mittleren Abweichung von einer Terz oder Quart angaben, in der mittleren Region sogar manche noch genauer, mit einer größten Abweichung von einer großen Sekunde, selten einer kleinen Terz. Sie verhalten sich ganz ähnlich, als die mit sog. regionärem absoluten Gehör begabten Menschen in der Tonregion, auf die sich ihr qualitatives absolutes Gehör nicht erstreckt.

Meine Auffassung über das absolute Gehör läßt ferner noch andere Beobachtungen von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus betrachten.

Es erklärt sich z. B. sehr leicht, weshalb bei Menschen mit absolutem Gehör Oktaventäuschungen (Fehler in der Oktavenbezeichnung) vorkommen. Die Aufmerksamkeit dieser Beobachter wird vor allem und in hohem Maße durch die Qualität, durch die Individualität des Tones in Anspruch genommen, das Höhenmerkmal wird vernachlässigt. Kommen sie aber einmal in die Lage, ihre Tonurteile auf ihre Tonhöhenerkennung allein gründen zu müssen (wie im oben geschilderten pathologischen Falle), so erlernen sie schnell die Höhenverhältnisse der Töne und machen niemals Oktavenfehler. Ferner ist es nicht weiter merkwürdig, daß die meisten, die kein qualitatives absolutes Gehör haben, die Ähnlichkeit zwischen c und cis größer finden, als zwischen c und e oder c und fis (die Höhendifferenz zwischen c und eis ist kleiner als zwischen c und e), die hingegen, die qualitatives absolutes Gehör haben, in der Regel keine Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Qualitäten erkennen können. Den Qualitativen fällt ganz ausdrücklich nur die Ähnlichkeit zwischen den Oktaventönen auf, da diese identische Qualitäten haben, während bei Nachbartönen die Ähnlichkeit der Höhen durch die Verschiedenheit der Qualitäten der Beachtung entrückt wird. Für die nach Höhe Urteilenden treten vielmehr die Nachbartöne wegen der Kleinheit des Höhenunterschiedes in Ähnlichkeitsbeziehung.

Um kurz zusammenzufassen: Die meisten Menschen können absolute Tonurteile abgeben. Manche, denen man bis jetzt das absolute Gehör allein zuschrieb, geben ihre Urteile vor allem auf Grund der Qualitätserkennung, die übrigen ausschließlich auf Grund der Höhenerkennung.
Weitere mit dem absoluten Gehör im Zusammenhang stehende Fragen, z. B. wie es möglich ist, daß viele von den Menschen mit qualitativem absoluten Gehör Töne nur in der mittleren Tonregion durch Tonqualitäten-erkennung bestimmen können, in der Tiefe und Höhe jedoch nur Tonhöhen erkennen, wo doch in der Tiefe und Höhe die Qualitäten dieselben sind wie in der Mitte, und vor allem andere akustische Erscheinungen, die durch meine Auffassung in ein neues Licht gerückt werden, wie Melodie und Intervalle, endlich neue Probleme, die durch diese Anschauung erst ent standen sind, kann ich hier nicht anführen, ich muß auf meine demnächst erscheinende Arbeit Zur Grundlegung der Tonpsychologie verweisen.

Zuletzt will ich noch kurz auf die in dieser Zeitschrift (1912. Heft 8) erschienene Kritik des Herrn Prof. Riemann eingehen, der sich hauptsächlich gegen das, was ich über das absolute Gehör in meiner oben zitierten Mitteilung gesagt hatte und hier soeben ausgeführt habe, gewandt hat. Ich möchte zum Anfang bemerke» daß Prof. Riemann auf meine Grundanschauungen nicht eingegangen ist; aus einigen sehr unklar formulierten Bemerkungen, die er erst gegen Schluß seiner Kritik anbringt, konnte ich nur entnehmen, daß er damit nicht einverstanden ist, was er aber daran auszusetzen hat, ist mir durchaus unklar geblieben. Daß es eine der musikalischen Eigenschaften, die Qualität, mit dem Stumpf'schen »Er weiterungsbegriff« identifiziert, ist falsch. Stumpf bat das Erweiterungs gesets aufgestellt, bezog es aber auf die Konsonanzverbältnisse der erweiterten Intervalle. Es bedeutete für ihn den Ausdruck der Beobachtung, daß diese denselben Verschmelzungsgrad wie die engen haben sollen. Hätte er dies auf identische Qualitäten zurückgeführt, dann erst wäie mit dem Erweiterungsgesetz auch der Begrif der unabhängigen Qualität eingeführt gewesen; diesen hat er aber zu jener Zelt vielmehr ausdrücklich abgelehnt (Konsonanz und Dissonanz, S. 45).

Da nun Prof. Riemann die zahlreichen Beweise, die ich zur Unterstützung meiner Anschauung mitteilte, nicht widerlegt, ja sogar nicht einmal besprochen hat, muß ich schließen, daß er an dem eigentlichen Gegenstand meiner Arbeit vorbeigegangen ist. Es geht dies schon aus dem Umstand hervor, daß er den Abschnitt über das absolute Gehör voranstellt, während die Tatsachen, die ich hierüber gefunden habe, für mich keineswegs das hauptsächliche Beweismaterial meinet Grundanschauung geliefert haben, und ich sie vielmehr als eine wenn auch sehr wertvolle Bestätigung dieser, an letzter Stelle meiner Mitteilung angeführt habe. Übrigens hat er meine Ansicht, daß zwei Arten von absolutem Gehör zu unterscheiden sind, nicht widerlegt. Er bekämpft in seiner Kritik nicht meint Ausführungen, sondern er spricht über Dinge, worüber ich in meiner Mitteilung kein einziges Wort gesagt habe. So spricht Prof. Riemann ausführlich über die Bedeutung des relativen Gehörs gegenüber dem absoluten. Ich kenne die Vorzüge und die eminente Bedeutung des relativen Gehörs, die Prof. Riemann in seiner Kritik hervorhebt, auch ist es interessant, die Rolle dieser beiden bei der musikalischen Betätigung zu studieren, da aber dies mit meinen Anschauungen in keiner Beziehung stand, habe ich darüber auch nichts gesagt. Es scheint mir, als wenn Prof. Riemann eigentlich nicht mich bekämpfen wollte, sondern diejenigen, die ein absolutes Gehör haben, da ich Beine temperamentvollen Aussprüche sonst nicht begreifen kann.

Auf einem Mißverständnis beruht es, daß er an den Bezeichnungen, die meine Versuchspersonen für die Töne gebraucht haben, Anstoß genommen hat. Wenn meine Versuchsperson einen Ton als gis bezeichnet hat, so wollte sie ihn damit niemals von as unterscheiden. Es schien ihr einfach überflüssig, gis oder as zu sagen. Hit der Frage, ob durch das absolute Gehör Kommaunterschiede zu erkennen sind, habe ich mich Oberhaupt nicht befaßt.
Was er über den Wert pathologischer Fälle sagt, daß man nämlich daraus keine Schlüsse auf die normale Funktion des Gehörs ziehen könne, kann ich nicht ernst nehmen. Ich müßte die größten Banalitäten sagen, wenn ich auf diese Meinung näher eingehen wollte. Spielen nicht unter den Argumenten für die Helmholtz'sche Farbentheorie und für seine Resonanzhypothese pathologische Fälle die größte Rolle? Und selbst dann, wenn es gelingt, eine Anschauung gänzlich ans den normalen Verhältnissen heraus zu entwickeln, ist es doch stets eine unerläßliche Forderung, daß sie mit allen pathologischen Beobachtungen in Einklang gebracht werden könne. Kommt sie damit in Widerspruch, so muß die Theorie entweder aufgegeben oder zweckmäßig modifiziert werden. Die Pathologie kontrolliert am strengsten und ohne Nachsicht die psychologischen und physiologischen Theorien.

Nun etwas Sachliches.

Prof. Riemann widerspricht meiner Angabe, daß die beiden Töne eines Intervalles in tiefer Lage kleinere Höhendistanz (Abstand) haben als in mittlerer. Er hätte das Gegenteil wahrgenommen. Ich will das nicht bestreiten, muß aber betonen, daß seine Beobachtungen allen anderen mir bekannten entgegengesetzt sind. Alle meine Versuchspersonen und selbst Prof. Stumpf [5], der sich damit eingehend beschäftigt hat, haben stets das gefunden, was ich behauptet habe. Auch ein Versuch widerspricht der Riemann'schen Beobachtung. Gebe ich die Töne H1--c0 sukzessiv, so kommt es vor, daß der Beobachter das Intervall für eine kleine Sekunde hält; sogar c0--Cis wird bei Versuchen öfters als kleine Sekunde aufgefaßt, was um so beweisender ist, als dabei sogar die Richtung des Höhenschrittes subjektiv umgekehrt werden maß. Hingegen wird niemals h0--c2 oder c2--cis1 als Sekunde beurteilt. Das erklärt sich einfach dadurch, daß die Distanz in dem einen Fall viel kleiner ist als in dem anderen. Siehe darüber ausführlich in meiner Grundlegung der Tonpsychologie Kap. 9. Intervall. Aber abgesehen von alledem, ist es vollkommen gleichgültig, ob die Distanz eines Int ervalles in der Tiefe oder in der Höhe größer ist, wenn sie nur verschieden sind. Prof. Riemann's Beobachtung hat also, wenn sie richtig ist, genau dieselbe Beweiskraft für meine Anschauung, wie meine eigenen Beobachtungen.

Von sachlichen Dingen, die mit meiner Arbeit überhaupt zu tun haben, ist die eine Bemerkung von Prof. Riemann richtig, daß die Paukentöne nicht qualitätslos sind.

Ich will endlich bemerken, daß meine Mitteilung nur eine äußerst kurze Zusammenfassung meiner Untersuchungen sein wollte. In einer kurzen Mitteilung finden nur die wichtigsten Resultate Platz, und darum ist es nicht überraschend, daß es zu Mißverständnissen kommen kann. Ich hoffe aber, daß Irrtümer und Mißverständnisse dieser Art nach dem Erscheinen meiner ausführlichen Arbeit nicht mehr möglich sein werden.


[1] G.Révész, Nachweis, daß in der sog. Tonhöhe zwei voneinander unabhängige Eigenschaften z'u unterscheiden sind. Nachrichten der Gesellsch. der Wissensch. zu Göttingen. Math.-physik. Klasse 1912.

[2] Mit ähnlichen Anschauungen begegnen wir uns bei Brentano, Mach, Drobisch, Lotze und M. Meyer.

[3] Sammelbände der IMG. 1902.

[4] P. v. Liebermann und G. Révész, Experimentelle Beiträge zur Orthosvmphonie und zum Falschhören. Zeitschrift für Psychologie, Bd. 63. 1912.

[5] Stumpf, Konsonanz und Dissonanz. Beitr. zur Akustik u. Musikwissensch. Leipz. 1898. S. 68.